Countdown für die Formel Eis
So ein Eisschlitten sieht harmlos aus. Drei Kufen, ein Segel, ein paar Seile. Und auf dem Sitz ein lustig verpackter Fahrer in einer Art Schlafsack. Das ist Robby von der „Wasserferienwelt im-jaich“ in Lauterbach. Auf dem Kopf trägt er einen Helm, die Augen schützt eine Brille, seine Schuhe haben Spikes und die Hände stecken in dicken Fäustlingen. Um den Hals hängen zwei Eispickel. Schon im Sommer, wenn er mit seinem pfeilschnellen Katamaran den Greifswalder Bodden durchschneidet, könnte man ihn den „Rasenden Robby“ nennen. Hier aber, auf der spiegelglatten, gefrorenen Puddeminer Wiek vor Gustow, wirkt das eher wie „Rasender Roland“. Denn die gleichnamige, bequem tuckernde Kleinbahn Rügens scheint gegen Robbys Schlitten wie ein Trabi gegen einen Rennboliden.
Jedenfalls, wenn er loslegt. Robby richtet das Segel am Wind aus, löst die Bremse und – Pfft. Wo ist er? Im Nullkommanix schießt sein Gefährt wie eine Rakete ins Blau am Horizont und würde sicher auch dahinter verschwinden, wenn der vereiste Bodden kein Ufer hätte. Aber so dreht der Schlitten urplötzlich nach rechts – Robby kratzt sozusagen ab, das Knirschen der Kufen ist noch aus einiger Distanz zu hören. In einer halsbrecherischen fast 180-Grad-Kurve weicht er anderen Seglern aus, er gleitet um eine Schilfinsel, verschwindet hinterm Reet und ward wohl nie mehr gesehen.
Halt, da taucht er doch wieder auf, sein Schlitten ist langsam jetzt, die panisch aufgeflatterten Möwen landen schimpfend in sicherer Entfernung. Doch schon heult der „Motor“, also der Wind, wieder auf, und einen Wimpernschlag später saust Robby erneut als ein riesiger Pfeil übers Eis. Da kriegt man schon beim Zuschauen den Geschwindigkeitsrausch.
Nach ein paar Minuten fegt Robby heran, zieht die Bremse, Rauch, nein, Eiskristalle wirbeln auf, der Schlitten steht. Und Robby sieht aus, als habe er gerade Sebastian Vettel geschlagen.
Der Vergleich zur Formel Eins ist gar nicht so weit hergeholt. Ein Eisschlitten gehört zur Formel Eis, die ist nicht viel langsamer als der Rennzirkus der Viertakter, dafür viel umweltfreundlicher: kein Lärm, kein Benzingestank, und für die Rennstrecke muss kein Bagger anrücken und keine Bürgerinitiative dagegen protestieren. Leider winken auch keine leichtbekleideten Mädels zum Start, es sei denn, so ein Boxenluder ist abgehärtet. Und wenn der Wind abflaut, hilft auch kein Anschieben mehr, aber immerhin trifft es dann alle.
Ansonsten ist die Raserei auf dem Eis mindestens genauso atemberaubend wie der publikumswirksame Kreisverkehr am Nürburgring. Und manchmal genauso gefährlich – wenn man nämlich einbricht und keine Eispickel um den Hals hängen hat, mit denen man sich wieder aus dem Wasser ziehen kann. Oder wenn man das Bremsen mit den Spikes nicht beherrscht. Oder wenn man mit dösenden Schwänen zusammenkracht. Oder wenn man … „Oder wenn man zu lange rumsteht“, sagt Robby und bittet mich in den Schlitten.
Würde ich ein Bild malen müssen über die nächsten Minuten, es sähe aus wie ein verschwommenes Aquarell. Nichts ist mehr klar, alles schießt an mir vorbei, das Schilf, das Ufer, die Bäume, die Häuser hinterm Feld, alles bunt durcheinander. Mittendrin ein bisschen Schwarz – da war ich ohnmächtig. Hätte ich schreiben können, stünde in meinen Notizen: „Ahhh!“, „Neeiin!“, Oh Gott!“ und vielleicht die Frage „Wie hoch fliegen wir?“
Dabei hatte alles so gemütlich begonnen mit dem Eissegeln. Das war im Holland des 17. Jahrhunderts, und die Schlitten waren noch Boote, unter die Kufen montiert wurden. Damit konnten dann kleine Lasten winters rasch über Flüsse und Seen transportiert werden. Auch aus der Mongolei sind Eisschlitten bekannt, dort wurden sie zum Fischfang genutzt. Bald etablierte sich eine Rennsportszene, die aber in Ermangelung echter Konkurrenz gegen Züge antrat. Das waren seinerzeit noch Dampfloks, doch auch gegen moderne ICE hätten die „Kufengranaten“ nicht schlecht ausgesehen. Angeblich liegt der Geschwindigkeitsrekord eines Eisschlittens bei 230 Stundenkilometern. Aufgestellt wurde er 1938 auf dem US-amerikanischen Lake Winnebago. Damals soll der Wind in Orkanstärke geblasen haben, für die üblichen rund 100 km/h reichen aber schon stärkere Brisen. Die nutzen mittlerweile auch Kiter, die auf ihren Schlittschuhen einen Lenkdrachen halten oder Surfer mit Boards und entsprechend umgebauten Surfriggs. Mit den Eisschlitten können sie allerdings nicht mithalten.
Denn die, kaum gestoppt durch lästige Reibung mit dem Untergrund, können sogar schneller als der Wind sein, den sie zum Antrieb brauchen. Sie können tatsächlich den Wind überholen! Das ist, als ob ein Autofahrer seinem Diesel davon fahren würde. „Das passiert beim Kreuzen“, sagt Segellehrer Robby und dann noch mehr, was das Phänomen erklärt. Ich habe allerdings nicht richtig hingehört, weil mir noch immer schwindlig war vom Tanz mit dem „Boddenporsche“.
Inzwischen gibt es verschiedene Bootsklassen, deren Größe bis zu richtigen Yacht reichen und deren häufigste die DN-Klasse ist, dem auch als „Strandsegler“ bekannten Schlitten. Benannt ist die Klasse nach einem von der Zeitung Detroit News eingeführten Standard, der eine Segelfläche von 6,5 Qm und eine Rumpflänge von 3,60 Metern vorschreibt. Es gibt die Marke Eigenbau und die juwelenbesetzte Eisrakete für den potenten Wüstensohn, es gibt Landes-, Europa- und Weltmeisterschaften, es gibt angebetete Champions vom Format eines Michael Schumachers und natürlich teuer verkaufende Ausstatter, die vom karbonharten Schuhspike (immerhin wird ja damit gebremst) bis zum Großraumsegel alles im Angebot haben. Was fehlt ist ein Eissee mit eingebautem Frostaggregat, denn bei ihrem Hobby sind die Eissegler immer noch auf die kalte Jahreszeit angewiesen.
Hilfreich wären vielleicht auch ein paar wassergekühlte Kufen, denke ich, als ich Robby wieder über die Puddeminer Wiek toben sehe. Bei seinen heißen Eisen dürfte nämlich demnächst das Eis unter ihm tauen. Auf einmal rumst es gewaltig, vielleicht war das der Düsenflieger hoch über dem See.